Ulrich Beul von der CDU und Stephan Neumann von den Grünen sind die verkehrspolitischen Sprecher ihrer Parteien. Wenn die schwarz-grüne Regierungskoalition sich zu Verkehrsthemen äußert, treten ihre Sprecher oft zusammen auf. Nach dem Debakel um die Pläne zu einem Hochradweg am Altenessener Bahnhof (ein weiteres Thema in diesem Newsletter) gaben sie der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung ein Interview zur grundsätzlichen Zukunft des Radverkehrs in Essen.

Unter der Überschrift „Wir müssen über den Radverkehr in Essen neu nachdenken“ hinterfragen die beiden Politiker hier nicht nur die Umsetzungsqualität des RadEndscheids, sondern speziell Ulrich Beul auch das Modalsplitziel der Stadt, das für die Zukunft eine gleichmäßige Verteilung der zurückgelegten Wege zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Auto und mit dem ÖPNV vorsieht. Dieses Ziel bildet das Kernelement des Mobilitätsplanes, der Essens Strategie für die Verkehrsentwicklung bis zum Jahr 2035 definiert. Die Aussagen der Sprecher im Gespräch mit der WAZ stellen in unseren Augen eine verkehrspolitische Bankrotterklärung dar.

So sagt Ulrich Beul, Bezug nehmend auf die hohe Kostenschätzung für einen Hochradweg am Bahnhof Altenessen: „Nicht nur in Altenessen stellt sich für mich die Frage: Können wir es uns überhaupt noch leisten, Radwege jenseits von Straßen zu bauen?“ Das ist keine zulässige Schlussfolgerung in Anbetracht der Schätzung der Verwaltung von Baukosten in Höhe von 77 Millionen Euro – plus/minus 50 Prozent. Die Brücke auf der Rheinischen Bahn über den Berthold-Beitz-Boulevard hat 3,1 Millionen Euro gekostet, die Brücke über die Bottroper Straße auf dem Grünzug Zangenstraße 1,8 Millionen Euro. Ulrich Beul nutzt die vage und unprofessionelle Kostenschätzung der Verwaltung, um einen aufwändigeren Radwegebau per se in Frage zu stellen.

Er schließt seiner eigenen suggestiven Frage folgende Aussage an: „Was wir stattdessen aber sicher nicht machen können, ist Radwege nur noch an Straßen zu markieren. Zumindest mit uns wäre das nicht zu machen.“ Hallo!? Eben das hat die CDU und die große Mehrheit des Stadtrates am 26. August 2020 beschlossen: An Hauptverkehrsstraßen im Radhauptrouten- und Ergänzungsnetz werden jährlich 8 km Radwege oder Radfahrstreifen angelegt. Es wird eine Neuordnung des heute vom Pkw-Verkehr beanspruchten öffentlichen Raums erforderlich.


Ulrich Beul stellt mit seiner Aussage die Realisation des RadEntscheids in Frage. Er spricht ganz offen die Haltung der CDU aus, die wir bei diversen Projekten und Bauvorhaben in den vergangenen drei Jahren rund um den Radverkehr erlebt haben. Ob Fahrradabstellbügel am Rüttenscheider Markt oder eine Fahrradstraße in Kupferdreh – die CDU lehnt Radverkehrsinfrastruktur ab, sobald sie den Kraftfahrzeugverkehr beeinträchtigen könnte.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs schlägt Ulrich Beul vor „Aber vielleicht müssen wir unsere Ansprüche an das Netz auch herunterschrauben.“ Er redet dabei über das bestehende Radwegenetz, dessen Dichte weder den Regelwerken genügt und das laut Gutachten lückenhaft und marode ist sowie zahlreiche gravierende Sicherheitsmängel aufweist.  Auch hier stellt er erneut den RadEntscheid infrage, denn die CDU hat 2020 im Rat etwas anderes beschlossen: Das Radwegenetz der Stadt Essen wird unterbrechungsfrei, vom Fußverkehr getrennt und durchgängig beleuchtet ausgebaut. Planung und Ausbau erfolgen den jeweils gültigen Regelwerken. Ab 2022 werden jährlich 10 km dieses Netzes auf den genannten Standard gebracht.

Am Ende sagt Ulrich Beul „Ich will das 25-Prozent-Ziel nicht gleich infrage stellen,“ und tut im im folgenden Nebensatz genau das, wenn er anschließt „aber es geht doch um den Umweltverbund, also um 75 Prozent Rad-, Fuß- und öffentlichen Personen-Nahverkehr, die wir erreichen wollen. Aus meiner Sicht ist der ÖPNV der bessere Hebel. Draußen regnet es gerade in Strömen. Wer fährt bei diesem Wetter schon Fahrrad?“

Ulrich Beul beerdigt an dieser Stelle das definierte Modalsplitziel der Stadt. Er streicht eine zukünftige Radverkehrsförderung, die auf einen 25 Prozentanteil des  Radverkehrs zielt, zugunsten der Ruhrbahn. Fun Fact: Ulrich Beul ist der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Ruhrbahn. Fun Fact Nummer Zwei: Ulrich Beul weiß ganz genau, dass eine signifikante Steigerung des Modalsplitanteils der Ruhrbahn unbezahlbar ist.

In ihrem eigenen Nahverkehrsplan räumt die Stadt ein, dass ein Modalsplitanteil von 25 Prozent selbst dann nicht zu erreichen ist, wenn sie eine jährliche Erhöhung des Betriebsdefizites der Ruhrbahn um weitere 9,5 Millionen Euro jährlich akzeptiert. Und diese Rechnung basiert auf Zahlen aus dem Jahr 2017. Im Jahr 2023 wird das Defizit des Essener ÖPNV Unternehmens laut dem Beteiligungsbericht der Stadt 90 Millionen Euro betragen.

Im Vergleich zum ÖPNV ist Radverkehrsinfrastruktur spottbillig – wenn man sie denn haben will.

Ein entscheidendes weiteres Ziel lässt Ulrich Beul dann außen vor. Selbst wenn die CDU den Umweltverbund nicht gleichmäßig verteilt, sondern nur in Summe auf 75 Prozent steigern will, muss sie dennoch den Anteil des Kraftfahrzeugverkehrs um 50 Prozent reduzieren. Diesen Teil der Rechnung verschweigt sie ihren autofahrenden Wähler*innen.

Am Ende des Interviews rudert Ulrich Beul ein wenig zurück, wenn er sagt „Das heißt nicht, dass wir keine Radwege mehr bauen.” Aber was das heißt, was er im übrigen Interview sagte, bleibt unklar.

Ulrich Beuls Gegenüber, Stephan Neumann, widerspricht der CDU Position zur Ruhrbahn als Hebel. Im Interview weist er darauf hin, dass der ÖPNV im Vergleich zum Radverkehr viel mehr Geld verlangt und erklärt, dass die Grünen an einem Radverkehrsanteil von 25 Prozent festhalten wollen, wie ebenso an der Idee, den Verkehrsraum neu zu verteilen. Ansonsten folgt er Ulrich Beul aber in der Argumentation und nimmt wie er die absurde 77 Millionen Euro Schätzung der Verwaltung zum Anlass, die Radverkehrsförderung ohne Not verbal einzudampfen, wenn er sagt „Aber vielleicht muss auch mal ein schmalerer Schutzstreifen genügen.”

Stephan Neumann glänzt auch nicht gerade, wenn er die Infrastrukturflops Umweltspur und #NennMichNichtFahrradstraße als erfolgreiche Beispiele der Essener Radverkehrspolitik nennt.

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass die beiden Sprecher vom Scheitern ihres Leuchtturmprojektes für den Altenessener Bahnhof enttäuscht sind. Diese Ernüchterung über eine insgesamt unprofessionelle, weil völlig vage Schätzung, rechtfertigt aber keinesfalls die Aussage „Wir müssen über den Radverkehr in Essen neu nachdenken“.

Ansonsten könnten 25.000 Menschen, die das Bürger*innenbegehren für eine bessere Radinfrastruktur unterzeichnet haben, den Eindruck gewinnen, die Essener Verwaltung und Politik arbeiten hart daran, im nächsten Fahrradklima-Test des ADFC eine Fünf vor dem Komma zu erzielen oder vielleicht sogar wieder einmal die „Rostige Speiche“ zu ergattern.

Kategorien: Aktuelles

1 Kommentar

Manfred Lauszat · 26.11.2023 um 11:46

Vielen Dank für diesen umfassenden Bericht.
Nicht wirklich nachvollziehbar und zu verstehen.

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