Der Fortschrittsbericht 2020 zur Grünen Hauptstadt startet mit Blick auf den Radverkehr beinahe positiv. Denn die neuen Fahrradstraßenachsen werden bereits im Vorwort erwähnt: Sie » … verändern den Alltag und das Erscheinungsbild der Stadt.« Doch während Themen wie der Digitalisierung oder einer umweltorientierten Wirtschaftsförderung hier eine enorme Relevanz zugewiesen wird, bleibt die Bedeutung des Radverkehrs für die Stadt leider schwammig.
Im folgenden ersten Kapitel zur gegenwärtigen Situation beginnt der Bericht mit einem klaren Urteil über den Klimaschutz und die Treibhausgasemissionen: »Angesichts der stagnierenden Minderung kann jedoch nicht vom Erreichen des Ziels im Jahr 2020 ausgegangen werden. Eine Steigerung der Minderungsraten ist notwendig, um die Klimaziele einzuhalten.«
Über alle 10 definierten Handlungsfelder hinweg sieht die Stadt den stärksten Minderungsbedarf der Treibhausgasemissionen beim Thema Verkehr. So definiert sie für das Handlungsfeld des motorisierten Individualverkehrs eine Reduzierung von 50% bis 2030 im Vergleich zu 2020. In absoluten Zahlen ist hier der höchste Reduzierungsbedarf gefordert.
Mit Blick auf diesen enormen Handlungsbedarf im Verkehrssektor ist es verwunderlich, welche bescheidene Aufmerksamkeit im Folgenden dem Radverkehr zuteil wird. Dessen signifikante Stärkung bei geringen Investitionskosten als emissionsfreie und nachhaltigste Verkehrsform ist eigentlich naheliegend.
Unter den Aktivitäten, die der Bericht für den Zeitraum 2017 bis 2020 thematisiert, kann die Stadt für den Radverkehr nur die drei bereits erwähnten Fahrradstraßenachsen vorweisen. Hierbei sollte man nicht vergessen, dass diese Achsen nicht freiwillig entstanden sind, sondern unter dem Druck einer drohenden Klage der Deutschen Umwelthilfe zur Durchsetzung von Fahrverboten für Dieselfahrzeuge.
Das geringe Engagement der Stadt für den Radverkehr setzt sich in ihrem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 fort. Mit der Förderung von Lastenrädern findet sich nur eine einzige Idee, um den Radverkehr zu stärken.
Wenn man bedenkt, welches hohe Potenzial das Radfahren für das Ziel Klimaneutralität besitzt, ist das bisher sichtbare Engagement der Stadt aus Sicht des RadEntscheids äußerst schwach.
Das Fazit des Berichts im ersten Kapitel verlangt nicht umsonst: »Um die ambitionierten Zwischenziele bis 2030 und 2040 sowie die Klimaneutralität bis spätestens 2050 zu erreichen, sind umfangreiche zusätzliche Maßnahmen notwendig.« Er sieht explizit: » … dass Veränderungen … im individuellen Verkehrsverhalten (zum Beispiel Umstieg auf den Umweltverbund) nötig sein werden.«
Das zweite Kapitel widmet sich dann ausführlich dem Thema Mobilität.
Der Radverkehr nimmt auf den 16 Inhaltsseiten keinen allzu großen Raum ein: 2 Seiten für die Fahrradstraßenachsen – sie müssen auch hier wieder für das ansonsten schwache Engagement herhalten. Hinzu kommen ein Absatz zum Verleihsystem Metropolrad und ein Absatz zum RadEntscheid – zwei Projekte, die äußerst erfolgreich sind, die aber gerade nicht von der Stadt initiiert wurden und die sie hier in Ermangelung eigener Ideen und Maßnahmen für sich in Anspruch nimmt.
Gerade die Popularität des Metropolrads wie auch die rund 25.000 Unterschriften für den RadEntscheid untermauern, dass die Bürger*innen liebend gern Rad fahren und hier sehr viel mehr Handlungsbedarf durch die Stadt einfordern, als sie selbst für notwendig hält.
Dass die Stadt dem Radverkehr im Sektor Mobilität wenig Bedeutung zumisst, überrascht, weil sie mit ihrem Modal-Split-Ziel von 4 x 25% speziell den Radverkehr stärken muss; von heute 7% über 11% in 2025 bis auf 25% in 2035. Das bedeutet eine Steigerung von über 240% der täglich zurückgelegten Wege mit dem Rad.
Was unmittelbar zu Beginn des Kapitels auffällt: Die Veränderungen des Metropolradangebots spiegeln sich in einem beeindruckendem Wachstum der Nutzungszahlen wieder. Im Vergleich dazu beschreibt der Bericht zuvor ausführlichst die Ausweitung des Ruhrbahnangebots, verzichtet hier aber auf die Nennung der Entwicklung der Nutzungszahlen. Gerade deren Steigerung war aber das entscheidende Argument, den Löwenanteil der Fördergelder aus dem Lead-City-Programm an die Ruhrbahn zu geben. Ohne konkrete Zahlen bleibt unbeantwortet, ob sich die sehr hohen Investitionen überhaupt gelohnt haben.
Das Kapitel startet ansonsten mit ernüchternden Fakten. Die Zahl der Neuzulassungen von Kraftfahrzeugen erhöhte sich in Essen von 2015 bis 2019 um 21%. Der Vergleich des Ist-Zustands mit den Zielen für das Handlungsfeld Mobilität räumt das Scheitern der Stadt ein: »Aufgrund der Zahlen mit nur unwesentlichen Verbesserungen für 2019 gegenüber 2011 musste das Ziel für 2020 auf 2025 verschoben werden.«
Das Ziel für 2035 will die Stadt jedoch bestehen lassen. Wer nun denkt, das bisherige Versagen und die gleichzeitige Aufrechterhaltung der Ziele, führte zu einem intensivierten Handeln, wird enttäuscht. Unter den Aktivitäten und Leitprojekten erwähnt der Bericht auf den weiteren Seiten neben den Fahrradstraßenachsen die im Juni 2021 endende Förderung des Lead City Programms zur Luftreinhaltung, die Realisierung von Mobilstationen zur Vernetzung der Verkehrsmittel, die neue App der Ruhrbahn und das Beteiligungsprojekt »Beweg dein Quartier«.
Mit Blick auf Art (z. B. Zäpp-App) und Umfang der Maßnahmen (z. B. 12,8 km Fahrradstraße) wundert es nicht, dass die Stadt ihre selbstgesteckten Klimaziele im Bereich Mobilität deutlich verfehlt. Der Bericht klammert auch berechtigte Kritikpunkte aus, wie zum Beispiel die fehlenden Modalfilter auf der Rüttenscheider Straße, die das Potenzial der Maßnahme deutlich schwächen.
Um all dem entgegenzusteuern, entwickelt die Stadt das Handlungskonzept Modal Split 2035.
Dieses Konzept wurde von einer kleinen Gruppe von acht (männlichen) Mitarbeitern der Stadtverwaltung, einem (männlichen) Mitarbeiter der Ruhrbahn und einem (männlichen) Berater und ehemaligen Mitarbeiter der Ruhrbahn erarbeitet. Die homogene Zusammensetzung des Gremiums lässt jede gesellschaftliche Diversität vermissen. Sie schließt Rad- wie Fußverkehrsverbände bewusst aus. Trotz einer teils fachlichen Qualifikation eignet sich dieses Gremium unseres Erachtens nicht, eine erfolgreiche Mobilitätsstrategie für Essen zu erarbeiten.
Zwar sind die dort formulierte Vision und die abstrakten Leitlinien positiv. Das Gremium zeigt sich bewusst offen für den notwendigen Wandel von 35% mehr Fahrten im ÖPNV, 240% mehr im Radverkehr und einer Reduzierung des MIV um ca. 55%.
Wenn es aber um konkrete Maßnahmen geht, nimmt der ÖPNV 4 Seiten ein, der Radverkehr immerhin noch 3 Seiten, der MIV aber nur 1 einzige Seite, und das, obwohl hier eine drastische Halbierung des Verkehrsaufkommens notwendig ist.
Die Konzeptverantwortlichen erklären wiederholt ihren Ansatz: »Wie beschrieben liegt der Fokus für die Zielerreichung zunächst auf der Erweiterung von Angeboten im ÖPNV, Radverkehr, Fußverkehr und Umweltverbund. Erst danach sollen – falls noch notwendig – deutlichere Einschränkungen im MIV eingeleitet werden.«
Dieser Tenor im Handlungskonzept lässt an der erklärten Absicht der Stadt, die Verkehrswende zu gestalten, ernsthafte Zweifel aufkommen. Mit Blick auf die bereits jetzt verfehlten Ziele ist fragwürdig, ob ein derart mutloses Konzept genügt, um das Modal-Split-Ziel bis 2035 und darüber hinaus die Klimaneutralität zu erreichen.
Der RadEntscheid sieht daher die Notwendigkeit einer Überarbeitung, die explizit nicht nur die Stärkung des ÖPNV, des Rad- und Fußverkehrs fördert, sondern Maßnahmen beinhaltet, die ausdrücklich und aktiv den Verkehrsanteil des MIV reduzieren. Wir fordern weiterhin, den Radverkehr deutlich stärker zu gewichten. Die Vorteile für die Gesundheit der Bevölkerung, das Emissionsvolumen, den Flächenverbrauch, die niedrigen Kosten für die Infrastruktur und das Plus an Lebensqualität müssen in den Maßnahmenanteil und -umfang einfließen.
Leider findet sich zu den konkreten Zukunftsplänen der Stadt im Fortschrittsbericht 2020 zur Grünen Hauptstadt nur die Umsetzung des RadEntscheid als Radverkehrsmaßnahme. Stattdessen dominieren auch hier die teils millionenschweren Projekte der Ruhrbahn, obgleich deren Anteil am Modal Split schon heute 19% beträgt.
Umso kritischer sieht es der RadEntscheid, dass die Stadt mit der Umsetzungsstrategie zum RadEntscheid für ihr Zugpferd keinen optimalen Start gestaltet. Zwar hat der Rat die Personal- und Finanzplanung der Verwaltung beschlossen, aber eben auch deren Vorhaben, geplante Baumaßnahmen in die Gesamtrechnung einzubeziehen, die nicht den beschlossenen Umsetzungsstandards entsprechen.
Im Fazit des Kapitels zur Mobilität nennt die Stadt ihr Vorhaben selbst eine große Kraftanstrengung und räumt ein: »Auch gegenüber vielen anderen Großstädten gleicher Größenordnung hat Essen hier Aufholbedarf.«
Aus Sicht des RadEntscheid ist es unverständlich, dass die Stadt diesen Widerspruch zwischen ihren selbstgesteckten Zielen und den weltweiten Entwicklungen einerseits und ihren bescheidenen und zögerlichen Maßnahmen andererseits nicht anpacken will. Sie scheut ausdrücklich den »Aufwand für Erläuterungen und Abwägungen bezüglich der Auswirkungen auf den Kfz-Verkehr beziehungsweise die Parkplatzbilanz in der Öffentlichkeit und den politischen Gremien«.
Die Notwendigkeit, die globale Erderwärmung zu bekämpfen, scheitert in der Stadt Essen an einer Politik und Stadtverwaltung, die vor dem Unverständnis der autofahrenden Bürger*innen und ihrem Wunsch nach Parkplätzen kapituliert.
Soweit der Fortschrittsbericht zur Grünen Hauptstadt.